J.D. Salinger ist sicherlich nicht nur für mich ein ganz besonderer Erzähler. Wie viele andere auch, habe ich seinen großen Roman "Der Fänger im Roggen" bereits in der Schule gelesen. Nicht, weil wir diesen im Englischunterricht lesen mussten, sondern weil mich die Erzählungen meiner Bekannten aus dem Englisch-LK (man stelle sich vor, ich konnte Englisch als Fremdsprache abwählen und habe Latein als Abiturfach gewählt...) irgendwie neugierig darauf gemacht hatten. Natürlich habe ich mich damals mit meinen beschränkten Englischkenntnissen (sic!) nicht an die Originalausgabee gewagt, sondern hatte mit der Böll-Übersetzung Vorlieb nehmen müssen (ohne zu wissen, dass die Übersetzung von Heinrich Böll war). Trotz aller Schwächen der deutschen Übersetzung hat mich der Roman damals fasziniert, glaubte ich doch in diesem Roman erkannt zu haben, was es ausmacht, eine gute Geschichte zu schreiben (zumindest damals und in meinen Augen...). Irgendwie passiert ja auch nicht wirklich etwas in diesem Roman, der ja eigentlich auch nur eine auf Romanlänge aufgeblasene Kurzgeschichte ist.
Holden Caufield, der "zerbrechlich" wirkende und stets altklug daherredende Held dieser Geschichte aus den 50er Jahren ist aus dem Internat herausgeflogen und vorzeitig - es ist bald Weihnachten - auf dem Weg nach Hause nach New York - ohne natürlich gesteigerten Wert darauf zu legen, in die offenen Arme seiner Eltern zu laufen. Aber das ganze ist ja eigentlich nur ein Rahmen für viele kleine Erzählungen....alles Erzählungen, die von "verpassten" Gelegenheiten und Chancen erzählen. Immer wieder gerät Caufield in eine vielversprechende, entscheidende Situation und das "was-wäre-wenn" geht auf der einen Seite dem Romanhelden und auf der anderen Seite natürlich auch dem Leser durch den Kopf....ohne dass der Romanheld die ihm gebotene Gelegenheit, der Geschichte einen anderen Ausgang zu geben, jemals ergreifen würde. So ist der Leser irgendwie enttäuscht, aber auf der anderen Seite fühlt man sich gekitzelt oder vielmehr angestachelt, um zu sehen, welche Möglichkeiten die nächste Situation birgt, in der Salinger seinen Helden geraten lässt, und ob er diesmal nicht vielleicht doch etwas daraus macht....
Etwas anders ist es in diesem Band mit 9 frühen Kurzgeschichten Salingers (allesamt erschienen vor dem 'Fänger im Roggen'), in der er auch viel Biographisches verarbeitet. Wie üblich passiert in den Geschichten auch nicht wirklich etwas. Aber es ist diese Atmosphäre... Stets schafft es Salinger, eine Art Melancholie über Allem schweben zu lassen. Es kommt gar nicht darauf an, was seine Figuren tatsächlich tun und wie sie agieren. Vielmehr sind es die Dialoge bzw. die inneren Monologe, die seine Figuren führen und die sie so besonders machen. Die Nebensächlichkeiten, die in diesen kurzen Episoden zur Hauptsache werden, die fragile Verletzlichkeit der Figuren, das Sich-verlieren in Oberflächlichkeiten, die doch so vieles bedeuten....Ähnliches kennt man aus den Kurzgeschichten von Raymond Carver, der sich Salinger sicherlich auch als Vorbild genommen hatte (besonders zu empfehlen ist die Kurzgeschichtensammlung 'What We Talk about When We Talk about Love').
Die meisten Geschichten von Salinger haben etwas mit dem Erwachsenwerden zu tun. Die Spannung, die sich aus dieser Potentialdifferenz ergibt, wenn die handelnde Figur auf der Schwelle zwischen beiden Welten steht, das Erkennen, dass die Lüge einen Stellenwert in der Welt der Erwachsenen besitzt, vor der man nur als Kind gefeit zu sein scheint....
So ist erste Geschichte "A perfect day for banana-fish" des vorliegenden Buches eine besonders düstere und bizarre Geschichte. Eine der ersten Geschichte, die Salinger 1948 im "New Yorker" veröffentlicht hat und die ihn über Nacht bekannt machte. Der Protagonist der Geschichte ist ein scheinbar etwas verwirrter Kriegsveteran, freundet sich im Urlaub mit einem kleinen Mädchen an und erzählt ihr am Strand eine Geschichte von Bananenfischen. Dann geht er zurück auf sein Hotelzimmer, legt sich zu seiner schlafenden Frau ins Bett und jagt sich eine Kugel in den Kopf....
Salinger bleibt, obwohl er als einer der meistgelesenen (und meistinterpretierten) amerikanischen Autoren gilt, ein ungewöhnlicher, irgendwie nicht greifbarer Charakter. Er nahm an einigen der heftigsten Schlachten des 2. Weltkriegs teil, so etwa bei der Landung der Aliierten in der Normandie oder auch in den Ardennen. Tatsächlich war er auch selbst aufgrund eines Kriegstraumas kurzzeitig in Behandlung. Während seiner Zeit in Europa traf er auf Ernest Hemingway, der als Kriegsberichterstatter teilnahm und Salinger eine "außerordentliche Begabung" bescheinigte. 1965 veröffentlichte Salinger seine letzte Erzählung -- insgesamt hat er neben dem "Fänger Im Roggen" lediglich knapp über 30 Kurzgeschichten veröffentlicht. Seither lebt er zurückgezogen und die ganze Welt wartete immer wieder auf einen neuen "großen Wurf"....der wohl nicht mehr kommen wird.
siehe auch:
Georg Dietz: Hinaus ins Leben - Alle reden über Salingers 'Fänger im Roggen', dabei ist sein Roman 'Franny und Zooey' viel schöner..., Die ZEIT, 22.03.2007 Nr. 13.